8. Kamenzer Rede in St. Annen
Sten Nadolny »Heimweh nach dem Glück des Gelingens«
Gelingt mir immer weniger, verliere ich an Können, kriege ich nichts mehr hin? Solche Fragen stellt man sich hin und wieder mit dem Blick aufs eigene Leben, wir nennen es Depression. Zu unserem Glück gehört nun einmal die Erfahrung des Gelingens bei dem, was wir unternehmen, einzeln oder gemeinsam. Bleiben solche Erlebnisse aus, werden wir unfroh. Und wieviel Scheitern wir überhaupt verkraften können, wissen wir nie im Voraus.
Für eine große Zahl von Menschen ist die berufliche Arbeit der Hauptwohnsitz des Gelingens, die zuverlässigste Quelle des Selbstvertrauens. Nun wird die Arbeit absehbar weniger werden. Wie steht es mit dem Glück in einer Zeit, in der alles schneller, fragiler, störungsanfälliger zu werden scheint, die eigene Person nicht ausgeschlossen? Schwinden insgesamt die Chancen für ein von innen her gelingendes Leben, das im Lessingschen Sinne seine »individualischen« Fähigkeiten entwickelt? Kann dieser Lessing uns weiter- oder womöglich zurückhelfen? Wie erging es ihm denn selbst? Mit etwas wie Neid blicken wir auf Zeiten zurück, in denen man viel unbefangener daran glauben konnte, das Projekt Menschheit insgesamt würde glücken.
Für die »8. Kamenzer Rede« konnte der Schriftsteller Sten Nadolny gewonnen werden. Er wurde 1942 in Zehdenick an der Havel geboren und wuchs in Oberbayern auf. Er studierte Geschichte und Politologie und promovierte zum Thema »Abrüstungsdiplomatie 1932/33«. Nach einer kurzen Zeit als Lehrer und dann als Aufnahmeleiter beim Film, beginnt er zu schreiben. 1981 erscheint Nadolnys erstes Buch »Netzkarte«, zwei Jahre später gelingt ihm mit dem Roman »Die Entdeckung der Langsamkeit« über den Polarforscher John Franklin ein Weltbestseller. Weitere bekannte Werke sind »Selim oder die Gabe der Rede« (1988), »Ein Gott der Frechheit« (1990) und der »Ullsteinroman« (2003). Sten Nadolny ist Träger des Ingeborg-Bachmann, des Hans-Fallada- und des Ernst-Hoferichter-Preises.